Workshop „The Way of Writing“ mit Natalie Goldberg

Eine kollegiale Reflexion.

„Schreibe über das, wovon du dich verabschieden musst, wenn du stirbst.“

Diesen Schreibimpuls musste ich erst einmal verdauen. Er stammt von Natalie Goldberg, Verfasserin zahlreicher Klassiker zum kreativen Schreiben, darunter Schreiben in Cafés (Writing down the bones) und Wild Mind. Eigentlich fantastisch: Ein achtwöchiges Online-Seminar mit der Creative Writing-Veteranin, gemeinsam mit mehr als zweitausend Schreibenden aus aller Welt. Mit Meditation und freiem Schreiben wollten wir unserem wild mind auf die Spur kommen und lernen, mit unserem monkey mind – auch innerer Kritiker genannt – umzugehen. Als Schreibende habe ich aus dem Seminar wertvolle Impulse mitgenommen. Als Schreibtrainerin hatte ich zusätzlich gehofft, von Natalie auch etwas für die Gestaltung meiner eigenen Workshops lernen zu können. Mit diesem „kollegialen Blick“ hatte ich allerdings zwischendurch oft ein unangenehmes Gefühl.

Natalie vermittelte uns in ihrem Seminar im Broadcast-Format die von ihr begründete writing practice. Sie zeigte dabei ihre eigene Verletzlichkeit, ließ uns teilhaben an ihrem Erfahrungsschatz, und gab in jeder Sitzung mehrere Impulse für zehnminütige Schreibeinheiten. Wir schrieben nebeneinander, zu Tausenden, überall auf der Welt. Wir schrieben über scheinbar Banales wie Haare, Karotten oder die Aussicht aus dem Fenster. Andere Schreibimpulse gingen tief. Wir schrieben über Narben. Über Abschied. Über das Gefühl, unsichtbar zu sein. Natalies Ansatz: Wenn wir frei schreiben, den Stift in Bewegung halten, uns nicht selbst zensieren, kommen wir ans Eingemachte. Dorthin, wo die eigentlich spannenden Texte lauern, die ans Tageslicht wollen. Dabei gibt es keine Grenzen und keine Tabus.

Seelenstriptease mit Klarnamen?

Das Vorlesen war fester Bestandteil des Workshops. In jeder Sitzung konnten einige im Plenum vor den rund zweitausend SeminarteilnehmerInnen lesen, für alle anderen gab es anschließend weitere, kleinere Leserunden. Diese Kleingruppen wurden jedes Mal neu zusammengewürfelt. Natürlich sind wir alle erwachsen und das Vorlesen war immer freiwillig. Die Masse bot die Illusion von Anonymität, und man sagt ja, dass es einigen tatsächlich hilft, ihre Traumata einfach nur mitzuteilen. Dennoch hat es mich jedes Mal befremdet, dass Menschen intime, vor wenigen Minuten verfasste Texte mit unzähligen Fremden geteilt haben. War den Vorlesenden wirklich bewusst, wie riesig die Masse der Menschen war, die zuhörte? Ahnten sie, wer sie sehen konnte, wie sie – überspitzt formuliert – aufgewühlt und zerzaust in ihren unaufgeräumten Wohnzimmern saßen? Seelenstriptease mit Klarnamen, die Betreffenden leicht auffindbar in der dazugehörigen Facebook-Gruppe.

“We’re studying mind“, sagte Natalie. Unser Ziel sei es, zu lernen, wie das Denken funktioniert, und dabei gebe es kein Gut oder Schlecht. Wir hörten einander also nur zu und kommentierten oder bewerteten die vorgelesenen Texte nicht. Dieses Zuhören hinterließ bei mir im diesem Massen-Onlinekurs-Setting stets ein schales Gefühl. Ein Mensch hat sich innerlich entblößt und dann hieß es lapidar: „Danke. Der Nächste bitte.“ Und dieser Mensch verschwand wieder im virtuellen Nichts. Manchmal hat jemand beim Vorlesen geweint und ich fragte mich dann, ob diese Person gerade allein war, oder ob jemand da war, der sie auffing. Und wie ging es eigentlich den ZuhörerInnen? Was hat der Text bei ihnen ausgelöst? Auch das konnten wir nicht wissen.

Schutzraum für Schreibende!

Nun kann man natürlich denken: Was sind wir doch für eine wunderbare, weltweite Gemeinschaft von Schreibenden! Man kann hoffen: Wer sich mit mir auf dieses Schreib-Abenteuer einlässt, muss einfach ein Mensch sein, dem ich vertrauen kann. Dennoch bin ich überzeugt: Wir haben als Leitende die Aufgabe, einen Schutzraum zu schaffen, in dem Schreibende derartig persönliche Texte mit anderen teilen können. Und wir sollten uns des „Schadens“ bewusst sein, der entstehen kann, wenn wir diesen Schutzraum nicht bieten (können). Vielleicht sind wir deutschsprachigen SchreibtrainerInnen bei diesem Thema vorsichtiger als unsere amerikanischen KollegInnen?

Für meine Tätigkeit als Schreibtrainerin habe ich aus Natalies Workshop daher vor allem mitgenommen, dass man auf einiges achten sollte, wenn man Präsenz-Workshops auf Online-Formate überträgt. Mögliche Fragen sind dabei für mich: Wie kann der Schutzraum aussehen, in dem ich auch im virtuellen Rahmen Vertrauen und Vertraulichkeit sicherstellen kann? Wie viele Personen dürfen maximal dabei sein, damit mein Konzept funktioniert? Welche Art von Schreibimpulsen möchte ich Teilnehmenden in einer allgemein belastenden Situation zumuten? Sollte ich sie derzeit wirklich zu Themen wie „Sterben“ oder „Krankheit“ schreiben lassen? Müssen wir das – wie Natalie sagte – aushalten, um ans „Eingemachte“ zu kommen? Oder wären positivere Impulse nicht ebenso geeignet, um eine gute Schreibpraxis zu entwickeln?

„Manche Dinge sind so persönlich, dass man sie nur Fremden erzählen kann“, sagte Natalie an einem der Kursabende. Sicher. Aber ich denke dabei doch eher an den netten Sitznachbarn im ansonsten leeren Abteil, auf einer langen Zugfahrt. Nicht an zweitausend Unbekannte vor ihren Monitoren.

Die Autorin

Christine Kämmer ist Schreibtrainerin und Sinologin in Wien. Als Amateurmusikerin setzt sie in ihren kreativen Workshops gern musikalische Schreibimpulse ein. Außerdem bloggt sie auf ihrer Website übers Schreiben und auf musedu über Musik.

8 Gedanken zu „Workshop „The Way of Writing“ mit Natalie Goldberg

  1. Danke, liebe Christine, für das Teilen dieser Erfahrung. Ich kann gut nachvollziehen, wie dich das bewegt und auch beunruhigt hat und tatsächlich finde ich das mit den schwierigsten Punkt im Umgang mit den neuen Online-Formaten. Wie gehen wir damit um, wenn jemand beim Schreiben am Bildschirm tief in die Traurigkeit kommt und wir uns eben nicht dazusetzen können? Deshalb gilt es hier besonders gut Sorge zu tragen, sowohl als Schreibende für sich selbst als auch als Anleitende. Sigrid Varduhn

  2. Ein sehr interessanter Beitrag, der gute Denkanstöße gibt, finde ich. Für das eigene Schreiben ebenso wie für die Konzeption von Schreibangeboten. Meiner Meinung nach ist es sehr wichtig, gründlich darüber nachzudenken, wie das Konzept eines safe space in verschiedenen Situationen in die virtuelle Welt übertragbar sein kann.

  3. Uiuiui. Mein Verständnis eines sicheren Ortes ist da ein anderes.
    Wenn ich mir vorstelle, ich gebe da etwas vielleicht sehr Intimes in den Raum, und es kommt keinerlei Resonanz zurück.

    Danke für das Teilhabenlassen. Viele Grüße
    Franz

  4. Auch von mir ein Danke an dich, Christine Kämmer, dass du uns teilhaben lässt. Jenseits dessen, dass ich wahrscheinlich mit der Art, wie ich Kreatives Schreiben unterrichte, näher am Konzept von Natalie Goldberg bin als du: Was mich dein Erfahrungsbericht lehrt, ist erstens, dass es notwendig ist zu fragen, ob Inhalte und Verfahren und Gruppe zueinander PASSEN, und zweitens zum kommnuizieren, wie ich (Kreatives) Schreiben in diesem spezifischen Setting verstehe, damit alle Menschen, die teilnehmen, entscheiden können, ob sie im für sie PASSENDEN Kurs sind. Es liegt in meiner Verantwortung als Kursleiterin, meine Haltung und das zu Erwartende zu kommnunizieren – es kann nicht in meiner Verantwortung liegen (vor allem nicht in einem mit solchen Massen konzipierten Kurs), Menschen (vor sich selbst) zu schützen. Es grüßt herzlich Kirsten Alers (Schreibpädagogin, wortwechsel-kaufungen.de)

  5. Liebe Christine,
    das ist spannend, zumal wir Kolleginnen vermutlich alle ihre Bücher kennen und zum Teil auch lieben. Ich finde es gut, dass du dich traust, Kritik zu äußern. Niemand ist unantastbar, egal welcher Ruf ihm/ihr vorauseilt. Ich finde das ziemlich crazy, was du da beschreibst und ich kann mir vorstellen, dass es im schlimmsten Fall auch missbraucht werden könnte. Allerdings gibt es sehr extrovertierte Menschen, die wild nach Bühne sind, denen genau das gefällt. Das Schönste an der Sache: dass so viele Menschen von überall auf der Welt gemeinsam etwas erfahren können, und das in Zeiten von social distancing. Jede/r trägt ihr Kreuz, dadurch kann eine tiefe Verbundenheit entstehen. Letztendlich ist es ja nicht schlimm, vor 2000 fremden Menschen zu weinen. Katharsis? Am Ende denke ich mir bei sowas: In der Erwachsenenbildung wird niemand zu etwas gezwungen. Allerdings muss ganz klar sein, wie die Regeln sind. Ich hoffe, sie hat den „sicheren Raum“ zur Regel gemacht.
    Ganz liebe Grüße aus Berlin,
    Rosaria

  6. Liebe Christine,

    danke für deinen Erfahrungsbericht. Ich habe wie du aus den Büchern von Goldberg viele tolle Impulse für mein eigenes Schreiben und für meine Workshops in der Schreibküche mitgenommen. Aber nach deinem Beitrag bin ich froh, dass ich mir die Erfahrung mit dem Goldberg-Online-Workshop erspart habe. Ich hatte lange überlegt, ob ich auch mitmachen soll, nach deinem Hinweis damals. Ich teile deine Einschätzung und ich werde weiterhin besonders auf einen geschützten Rahmen achten, vor allem wenn es um Rohtexte geht. Egal ob live oder online.

    Liebe Grüße aus der Schreibküche in Wien, Ilona

  7. Liebe Christine,
    auch von mir danke für den Einblick in Deine Erfahrung. 2000 Teilnehmende – habe ich das richtig verstanden?! Das klingt für mich zuerst nach Kommerz. Dann nach einer tollen Gelegenheit eine bekannte Schreibgruppenleiterin live kennen zu lernen. Ich halte wenig von Kartharsis und öffentlichem Seelenstriptease. Das kann für die Zuhörenden auch beschämend sind. Ich habe einen Online-Schreibkurs bei Anna Platsch mitgemacht (Schreiben als Weg). Hier habe ich einen klaren Rahmen erlebt, Fürsorge und auch die Erinnerung an die Selbstverantwortung. Wir sind nicht in einem physischen Raum und dennoch geht viel Anteilnahme, es passieren bei jeder einzelnen Person Prozesse von unterschiedlicher Intensität. Manche brauchen viel mehr Raum und Zuwendung, das ist in diesem Format (wie auch sonst in einer Gruppe) schwierig zu gewährleisten. Vorlesen braucht unbedingt einen geschützten Rahmen! Ich misstraue der These zutiefst, dass sich Trauma auf diese Art heilen lassen. Entblößung durch Entblößung heilen – das ist paradox! Und doch mag es Menschen geben, denen das hilft.
    Ich möchte in meinen meditiativen Schreibwerkstätten einen Raum des Vertrauens, der Wertschätzung und der Achtsamkeit kreieren, in dem dennoch die Grenzen der einzelnen gewahrt bleiben. Daher investiere ich online sehr viel Zeit für die Gestaltung des gemeinsamen Raums. Und ich als Schreibgruppenenleiterin möchte noch alle sehen können, da ist für mich die Grenze bei 12 schon erreicht. Nächste Woche nehme ich an einem Online-Kurs „Embodied Writing“ teil, auch von einer Amerikanerin – ich bin gespannt, was ich dort erleben werde!
    Liebe Grüße, Christiane (Schreibberatung Bielefeld)

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